Mit Vorsicht genießen?

Kommentierende Anmerkungen zur Veröffentlichung von Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München 2012

Vorab: Sehr ungern habe ich nach den schon wahrgenommenen Kritiken und der Kenntnis des Werkes „Vorsicht Bildschirm“ für dieses Buch 20 € ausgegeben und den so genannten „Erfolg“ (Spiegel-Bestseller) damit auch noch unterstützt. Aber für eine Stellungnahme ist die Lektüre wohl nötig.

Zugegeben, sie hat sich in einigen Kapiteln und auf einigen Seiten auch gelohnt. Ich habe etwas gelernt. Aber ich habe auch sehr viele und sehr dicke Fragezeichen an den Rand gemacht und mich bei mancher Formulierung gefragt, ob die wirklich und wachen Geistes von einem renommierten Wissenschaftler in Deutschland stammen kann.

Im Folgenden einige Eindrücke meiner Lektüre, warum man dieses Buch lesen kann und warum man es nicht lesen sollte (wenn man sich nicht um den Verstand bringen will).

Ein Grundproblem des Buches scheint zu sein, dass es zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Ratgeberliteratur schwankt; letzteres schlägt vor allem im jeweiligen Fazit der einzelnen Kapitel und insbesondere in den zusammenfassenden Lebensweisheiten S. 323 bis 326 durch. Diese Ratschläge reichen von „Ernähren Sie sich gesund.“ über „Hören Sie gelegentlich ganz bewusst Musik.“ … bis zu „Meiden Sie die digitalen Medien. (…) Hören wir auf, sie (die Köpfe der nächsten Generation) systematisch zu vermüllen“. Gute Ratgeberliteratur wird sich immer auf den aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis beziehen; aber leider sind marktgängige Ratgeber selten um Objektivität bemüht (was Wissenschaft bekanntlich sein sollte), sondern häufig missionarisch bis fundamentalistisch einer Idee verhaftet. Dieser Idee, diesem Vorurteil nach werden dann wissenschaftliche Erkenntnisse sortiert – in gute und schlechte. Beispiel: „Tatsächlich gibt es bis heute keine unabhängige Studie, die zweifelsfrei nachgewiesen hätte, dass Lernen allein durch die Einführung von Computern und Bildschirmen in Klassenzimmern effektiver wird.“ (Anm.: Eine solche Studie wird es auch nie geben, weil Effektivität nicht von der Anwesenheit von Technik, sondern deren Nutzung, von Inhalten und Methoden abhängt!) (…) „Studien, die das Gegenteil zeigen, dass also die Informationstechnologie einen negativen Effekt auf die Bildung hat, gibt es hingegen durchaus.“ (S. 83f.) Einige dem Autor passende Studien werden angeführt, viele andere werden ignoriert.

Der Autor ist ein anerkannter Mediziner und Psychologe mit Schwerpunkt Psychiatrie und Neurowissenschaft. Die Passagen des Buches, in denen aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung anschaulich und verständlich beschrieben werden, sind lesbar und durchaus lehrreich. Auch verallgemeinernde Gedanken, die solche Erkenntnisse dann auf menschliches Lernen übertragen, sind vielfach nachvollziehbar.

In einigen Kapiteln schießt der Autor gegen (Medien-) PädagogInnen, obwohl er sie („uns“) eigentlich für seine Positionen gewinnen müsste, wenn es ihm denn tatsächlich um die Kinder geht. Nur sollte man dann nicht eine ganze Berufsgruppe diffamieren und behaupten, dass wir von der Medienindustrie leben und uns deshalb nicht kritisch äußern (vgl. S. 26); dann müsste man den Medizinern ebenso pauschal ihre gelegentliche Kooperation mit der Pharmaindustrie vorwerfen. Ich kenne im Übrigen keinen Medienpädagogen, der an die Chimäre einer „Generation von digitalen Wunderkindern“ (S. 221) glaubt, wie es der Autor unterstellt. MedienpädagogInnen versuchen in ihrer Praxis, Kinder und Jugendliche in ihren Lebenswelten ernst zu nehmen. Gegen das „Marktgeschrei von der digitalen Revolution im Klassenzimmer“ (S. 20) könnte man sich durchaus zusammentun. Aber der Folgesatz enthält dann eine fatale Verfälschung: „Es heißt, dass die neuen Medien heute eben zum Alltag gehören (Ja!) und wir die Kinder an sie gewöhnen müssen.“ Beim zweiten Halbsatz liegt natürlich für den Autor passend die Suchtassoziation nahe. Aber kein vernünftiger Medienpädagoge wird diesen Halbsatz unterschreiben. Es geht um eine kritisch konstruktive Auseinandersetzung mit Medien – und sicher nicht um einen irgendwie pädagogisch legitimierten Gewöhnungsprozess. Herr Spitzer sollte sich einmal mit medienpädagogischer Literatur und deren Empfehlungen auseinandersetzen (z.B. den Publikationen der GMK, deren Leitmotto derzeit heißt: „Kreativ und kritisch mit Medien leben“).

Ein positives Beispiel: Kap. 6 „Baby-TV und Baby-Einstein-DVDs“ (S. 129ff.). Die Einsicht und die daraus resultierende Verantwortung kann man nicht nachdrücklich genug betonen: „Das Gehirn eines Kindes ist noch nicht ‚fertig’ und deshalb noch besonders prägbar: Es lernt sehr schnell …“ (S. 129) Auch die Zusammenhänge zwischen Medienkonsum, Bewegungsmangel, Werbung, falscher Ernährung etc. sind durchaus wichtig und teils besorgniserregend. Ja – „einer Institution dürfen wir unsere Kinder ganz gewiss nicht unkontrolliert überlassen: dem freien Markt.“ (S. 151) Aber kann man mit wissenschaftlichem Ernst wirklich einen Satz niederschreiben: „digitale Medien (sind) prinzipiell als geistige Nahrung für Kinder ungeeignet, unabhängig von den (zumeist schrecklichen) Inhalten, die wir unseren Kindern zumuten“ (S. 135)? Eine Parole wie „Bildschirme schaden der Bildung“ (S. 148) ist genau so „blöd“ wie der Satz „Bildung kommt von Bildschirm“, der zum Glück aus dem kabarettistischen Kontext stammt.

„Gehirnnutzung führt (…) zum Wachstum der Gehirnareale, die für die spezielle Fähigkeit gebraucht werden.“ (S. 37) Sollten wir Angst vor überdimensionalen Mediengehirnen haben oder gibt es auch Areale, die für eine kritische und kompetente Mediennutzung gebraucht werden?! Dass Lesen und Schreiben als Grundfähigkeiten dazu gehören, steht auch für Medienpädagogen außer Frage. – Gedächtnisspuren und die Veränderung von Synapsen im Gehirn pauschal mit dem Begriff „Lernen“ gleichzusetzen (vgl. S. 52; 65), ist eine neurobiologische Sicht, die in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften nicht geteilt wird.

Selektive Wahrnehmung, Verarbeitungstiefe, aber auch Interessen, Motivationen etc. werden vom Autor als zusätzliche Faktoren zumindest benannt. (S. 68f.) Es ist empirisch sicher nicht haltbar, die Nutzung digitaler Medien pauschal mit Oberflächlichkeit und damit mit geringerer Lerneffektivität gleichzusetzen (vgl. S. 70). Der Autor möge sich einmal die Vielfalt der kreativen Produkte, die junge Menschen mit digitalen Medien gestalten (malen, texten, schreiben, musizieren, fotografieren, filmen …) zeigen lassen oder im Netz ansehen. Dann müsste er eigentlich den Unsinn solch pauschaler Aussagen sinnlich „be-greifen“. Dieser „Unsinn“ kommt auch im Beispiel auf S. 70 zum Ausdruck: Natürlich ist es oberflächlich und geradezu banal, wenn ein Kind auf einem Smartboard ein Wort von einer Stelle a nach b schiebt. Aber es kann das nur richtig oder falsch tun, wenn es das Wort gelesen hat und auch den Kontext versteht, dem das Wort dann zugeordnet wird. Ob das stumpfe Copy and Paste in einem Lückentext, in den das Kind aus einer Wortliste die hoffentlich richtigen Wörter in die Lücke hinein abschreibt, allein durch den „aktiven“ Schreibvorgang wesentlich lerneffektiver ist, dürfte von weiteren Faktoren abhängig sein – z.B. was mehr Spaß macht!

„Bildung macht frei – frei von vielen Zwängen, denn wer gebildet ist, kann sich kritisch gegenüber sich selbst und seiner Umwelt verhalten …“ (S. 61) Das ist eigentlich ein gutes Argument für Medienbildung, so wie sie derzeit in der pädagogischen Community verstanden wird.

„Kinder lernen deutlich schneller als Erwachsene. Sie müssen dies tun, denn sie wissen noch nichts und sollen sich die Welt rasch aneignen.“ (S. 183) Auch das ist eigentlich ein gutes Argument für frühe Medienbildung, nicht weil Medien per se so „bildend“ oder in jedem Fall besser als alte Methoden wären, aber weil sie Teil der Welt sind, in der Kinder heute nun einmal aufwachsen und zurecht kommen müssen. Vergleichsweise (un-)sinnig wäre die folgende Forderung: Wir wissen, dass die meisten Menschen heute sich zu wenig bewegen, zu viel sitzen und dass daraus riesige und teure Gesundheitsprobleme entstehen. Also schaffen wir die Stühle in den Schulen ab! Quatsch – aber um mehr Bewegung in den Schulen, gute Sitzgelegenheiten, viel Abwechselung etc. sollten wir uns dringend bemühen. – In der Differenzierung, welche Mediennutzung in welchem Alter denn „bildend“, förderlich für eine gesunde Entwicklung von jungen Menschen ist, könnten und sollten Gehirnforschung und Medienpädagogik künftig intensiv zusammenarbeiten (aber sich nicht unqualifiziert heruntermachen). Digitale Medien im Kindergarten pauschal als „eine Art von Anfixen“ zu bezeichnen (S. 75), macht jede konstruktive Zusammenarbeit von vornherein zunichte; denn gerade heute ist es wichtiger denn je, Kindern und Familien einen kreativen und kritischen Umgang mit Medien zu vermitteln; das geht nur mit, nicht ohne gute Medien in maß- und sinnvoller Nutzung. Und deshalb ist der Drogen- bzw. Alkoholvergleich des Autors auch falsch. Ohne Drogen und Alkohol könnte unsere Gesellschaft weiter funktionieren (nur in der Medizin wäre das wohl ein Problem), ohne digitale Medien wohl kaum.

Mal wieder etwas Positives: Die Gedanken und beschriebenen Forschungsexperimente, ob der Mensch durch Speichermöglichkeiten und universelle Zugänglichkeit von Informationen weniger geistig aktiv ist, eher vergisst, sind nachdenkenswert (Kap. 4). Ebenfalls ist die alte Frage der Medienforschung, wie direkt personale Kommunikation und mediale Kommunikationsformen sich zueinander verhalten (Kap. 5), auch heute aktuell. Allerdings sollte man sie nicht mit dem Vorurteil angehen, dass digitale Medien ja per se nur Nachteile haben können. Zum Beispiel ignoriert der Autor völlig, dass ein Großteil der Netzwerkkommunikation Anschlusskommunikation an reale Begegnungen ist und Brückenfunktion hat, bis man sich wieder trifft. Und wieder einmal sind Pauschalisierungen seitens des Autors falsch und irreführend: „In Wahrheit machen digitale soziale Netzwerke unsere Kinder und Jugendlichen einsam und unglücklich!“ (S. 114) Ebenso parolenhaft heißt es im Fazit des Kapitels: „Das Internet ist voller scheiternder Sozialkontakte …“ (S. 128) Das ist unsere Gesellschaft vielleicht auch, aber Genaueres dazu könnten vermutlich Soziologen beitragen, wenn man sie befragt. Schon vorher behauptet der Autor phrasenhaft: „Im Internet wird mehr gelogen und betrogen als in der realen Welt, und man benimmt sich dort auch öfter daneben.“ (S. 74) Als „empirischer“ Nachweis für diese Aussage findet sich nur ein Verweis auf das eigene Buch (Fußnote: „Dies wird in den folgenden Kapiteln noch dargelegt.“).

Die Kapitel über Multitasking (10), Selbstkontrolle (11) und Gesundheitsprobleme (12) enthalten Nachdenkenswertes. Da wägt der Autor mehr ab und spricht auch mal von Wahrscheinlichkeiten. Allerdings gibt es auch da immer wieder Ausrutscher, z.B. wenn nahegelegt wird, dass Schlaflosigkeit mit ihren Folgeproblemen quasi eine notwendige Konsequenz für die Teilnahme an LAN-Partys wäre (S. 260). Auch hier ist eine Klarstellung nötig: In medienpädagogischen Kreisen werden exzessives Computerspielen und Internetverhalten durchaus als Problem gesehen, wird davor gewarnt, wird darüber aufgeklärt. Aber es wird auch nicht verschwiegen, dass es bislang keine allgemein anerkannte Definition gibt, ob und wann man sinnvoll von Computerspielsucht oder Onlinesucht sprechen kann. Eine Aussage wie: „Wir wissen also nicht nur, dass digitale Medien süchtig machen, wir wissen auch, warum dies so ist“ (S. 266) ist so pauschal falsch, wäre aber durch die Einfügung des kleinen Wörtchen „können“ im mittleren Halbsatz und durch die Ersetzung von ist durch „sein kann“ diskutabel.

Manche Studien und Experimente, die der Autor knapp referiert bzw. erklärt, könnten für die Medienforschung und die medienpädagogische Praxis Anregungen enthalten, ihre Erfahrungen weitergehend empirisch zu untermauern. Aber was der Autor aufs Ganze gesehen macht, nennt man in anderen Kontexten „Bruchsteinexegese“. Ich suche mir die Studien, mit denen ich meine Vorurteile belegen kann. Und diese Studien werden dann auch nicht weiter kritisch hinterfragt, z.B. daraufhin, inwieweit sie nur kurzzeitige Effekte messen bzw. aus der Laborsituation oder der Forschungssituation mit Studierenden heraus übertragbar oder gar verallgemeinerbar sind. Andere Studien, die u.U. zu anderen, teils gegenteiligen Ergebnissen führen, werden ignoriert oder mit spitzer Feder angegangen.

Herr Spitzer bezieht sich fast ausschließlich auf Literatur und Forschungsergebnisse aus dem englischsprachigen Raum, die dazu noch zumeist aus medizinischen, psychologischen oder psychiatrischen Kontexten stammen. Literatur und Forschungsergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum und aus den relevanten Disziplinen wie Medienwissenschaften, Medienpädagogik etc. werden nahezu völlig ignoriert. Inwiefern Ergebnisse aus dem angloamerikanischen Bereich auf Verhältnisse hierzulande übertragen werden können, diese Frage wird insgesamt großzügig übersehen. Das ist vielleicht auch ein Manko der wissenschaftlichen Disziplinen, dass wir jeweils die anderen Abteilungen zu wenig wahrnehmen und zu wenig auf Augenhöhe kooperieren.

Zu den aktuellen Medienthemen relevante Studien aus dem deutschsprachigen Raum – etwa die JIM- und KIM-Studien als repräsentative quantitative Studien, diverse Studien des JFF München, des Hans-Bredow-Institutes und vieler anderer Forschungseinrichtungen – werden überhaupt nicht berücksichtigt. Es ist schon merkwürdig, wenn Daten zur Mediennutzung in Deutschland ausschließlich aus Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens (KFN)
übernommen werden (S. 12) und z.B. ARD/ZDF-Onlinestudie oder die genannten empirischen Studien unerwähnt bleiben.

Ein Wissenschaftler verwendet üblicherweise präzise Begriffe und definiert sie angemessen. Was bitte meint der Autor mit „digitale Medien“? Er labelt sie lediglich als „Lernverhinderungsmaschinen“ – Und was „digitale Demenz“ sein soll, habe ich nach der Lektüre des Buches auch nicht begriffen. Sie „zeichnet sich im Wesentlichen durch die zunehmende Unfähigkeit aus, die geistigen Leistungen in vollem Umfang zu nutzen und zu kontrollieren, d.h. zu denken, zu wollen, zu handeln – im Wissen, was gerade passiert, wo man ist und letztlich sogar wer man ist.“ (S. 296) Gehört kritisches Bewusstsein (Wissen, Können, Werthaltungen) in Sachen digitale Medien nicht dazu? Die Grafik auf S. 298 zu schädlichen und günstigen Einflüssen auf die Gehirnbildung ist so schlagwortartig, dass sie allenfalls als Mindmap zur Diskussion taugen kann, aber nicht als Darstellung eines wissenschaftlichen Erkenntnisstandes.

Ein Wissenschaftler muss sich einen angemessenen Überblick zum Stand der Diskussionen und Forschungen zu einer Sache machen. Ob der Autor das getan hat, wenn er fixiert, „dass gerade die digitalen sozialen Netzwerke keineswegs zu mehr und besseren Kontakten, sondern zu sozialer Isolation und oberflächlichen Kontakten führen“ (S. 25)? Ich würde sagen: Nein. Viele Studien (z.B. des JFF und des Hans-Bredow-Instituts) diskutieren die Potenziale und Risiken der Sozialen Netzwerke für Heranwachsende viel differenzierter.

An einigen Stellen wäre Sachkundigkeit angebracht, z.B. in Sachen Jugendmedienschutz.  „Auch die Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) der Medienwirtschaft scheint sich dieser Sicht anzuschließen, denn das Kriegsspiel World of Warcraft ist trotz seines sehr hohen Suchtpotentials ab einem Alter von zwölf Jahren freigegeben.“ (S. 189 f.) Die Zuständigkeiten sind hier etwas anders; für Computerspiele ist die USK zuständig. Die Freigabe von WOW wurde und wird ausführlich diskutiert; ebenso die Frage des Themas Sucht, das bislang kein anwendbares Kriterium einer Jugendschutzeinstufung ist.

Auch über den Computerspielepreis für Crysis 2 kann man diskutieren und wurde viel diskutiert. Aber auch hier sollte sich ein Wissenschaftler die Mühe machen und die Kriterien für die Prämierung anschauen. Auch andere Medien (Bücher, Filme, Fotos, Kunstwerke …) werden kulturell hoch eingestuft, obwohl sie sicherlich nicht für Kinder und Jugendliche gedacht oder geeignet sind. Immerhin hat Martin Geißler es als Medienpädagoge zu einer namentlichen Erwähnung im Buch gebracht; mit seinen Argumenten setzt sich der Autor allerdings nicht auseinander (S. 189; 281), sondern nimmt seine Informationen nur aus einem Beitrag der SZ. Die eigenen wissenschaftlichen Publikationen von Martin Geißler ignoriert Spitzer. Computerspielpädagogik mit Ballerspielen gleichzusetzen, ist schlichtweg falsch; letztere sind rein quantitativ nur ein kleiner Teil der Computerspiele; der Autor möge sich diesbezüglich beispielsweise einmal die Altersfreigaben der USK ansehen. Wer bestreitet, dass Computerspiele Teil unserer Kultur heute sind, könnte dies genauso gut für Zeitschriften tun.

Wenn Medienkompetenz – und das scheint beim Autor das einzige auf Technik fixierte (Miss-) Verständnis des Begriffes zu sein, der in Medienwissenschaft und Medienpädagogik seit zwei Jahrzehnten intensiv diskutiert, differenziert und abgewogen wird – nur als Schlagwort dient, mit dem „gerade den verunsicherten Eltern aus sozial eher schwachen Schichten vorgegaukelt wird, sie würden etwas Gutes tun, wenn sie ihr knappes Geld in rasch veraltende Hard- und Software stecken“ (S. 307), dann ist das grob fahrlässig. Wer sich die vielfach gute Praxis der Medienpädagogik in Deutschland ansieht, wird nicht auf die Idee kommen, ein „Medienkompetenztraining“ mit einem Training von Alkoholkompetenz oder mit dem Anfixen in der Drogenszene gleichzusetzen. Das ist albern!

Den thematischen Zwischenbericht einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen und aus Sekundärliteratur zitierten Kurzsatz abzutun und den wichtigen Kontext als „seitenlange(n) und unerträglich gedankenlose(n) Lobhudelei auf digitale Medien“ (S. 91) abzutun, ist schlichtweg unseriös. Die erneuten Einlassungen auf S. 277f. bringen auch nur einen polemisch falschen Bezug eines Zitats auf das Kindergartenalter; die Verfasser hatten diese Altersgruppe sicher nicht im Blick, wenn es um die Fähigkeit zu einer Online-Registrierung geht. Das anschließende Zitat zur Verbindung von Medienkompetenz und Jugendmedienschutz ist sinnentstellt. Es geht nicht darum, Menschen kommunikative Möglichkeiten „anzudrehen“, wie Herr Spitzer das Zitat fortführt; sondern: „jedem Menschen die Chance zu geben, neue kommunikative Möglichkeiten für die eigene Lebensgestaltung so produktiv wie möglich nutzen zu können“. In diesem Zwischenbericht kann man auf der gleichen Seite eine auch von Herrn Spitzer nachlesbare Erläuterung zur Medienkompetenz nachlesen: „Medienkompetenz wird in der wissenschaftlichen Diskussion keineswegs reduziert auf technisch-manuelle Fertigkeiten verstanden, sondern bezeichnet eine Spannbreite von kognitiven, affektiven und konativen (also das Denken, Fühlen und Handeln betreffende) Fähigkeiten, die ein medienkompetentes Individuum aufweisen sollte.“ (Zweiter Zwischenbericht der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zum Thema „Medienkompetenz“ vom 21.10.2011, S. 5)

Im „Fazit“ fasst man normalerweise etwas zusammen, bringt es auf den Punkt. Dieser „Punkt“ ist im vorliegenden Buch fast in jedem (Zwischen-)Fazit, das ein Kapitel abschließt, mit Polemik und unzulässigen Verallgemeinerungen angereichert. Einen Beleg dafür kann sich jeder Leser schnell selbst verschaffen, wenn er nur die jeweiligen Fazit-Seiten liest. Aber Vorsicht beim „Genießen“!

Abschließend kann man dem Buch zugute halten, dass manche Formulierungen (aus dem Kontext) als „Stilblüten“ wenigstens zum (Be-)Lächeln reizen:

Der Autor dankt dem Verlagslektor dafür, „dass er dem Rohdiamanten (…) Feinschliff verliehen hat.“ Denn: „Je mehr Gehirne ein Text vor dem Druck durchlaufen hat, desto leichter kann er nachher von den Gehirnen der Leser aufgesogen und verdaut werden.“ (S. 327, Hervorh. im Orig.)

„Jeder Facharzt hat sein Organ, und für ihn ist es das wichtigste. Wer hat nun recht? Ich habe recht …“ (S. 50)

„Ich bin auch kein ‚Medienhasser’, wie immer wieder behauptet wird. Jede Woche (…) läuft meine Sendung Geist und Gehirn, und wenn Sie sich diese 15 Minuten Fernsehen wöchentlich gönnen, dann gebe ich Ihnen hiermit schriftlich, dass dies Ihrem Gehirn nicht schadet.“ (S. 19)

„Als der Amokläufer hereinkam und um sich schoss, diskutierte man in der Klasse übrigens gerade mein Buch Vorsicht Bildschirm, also die Auswirkungen medialer Gewalt in der wirklichen Welt.“ (S. 203)

„Spielten nur Oma und Opa World of Warcraft, wäre das nicht weiter schlimm, denn sie würden die langfristigen gesundheitlichen Konsequenzen ihres Tuns ohnehin nicht mehr erleben.“ (S. 273)

Fazit: „Es gibt viele Leute, die mit den digitalen Produkten sehr viel Geld verdienen und denen das Schicksal von Menschen, insbesondere von Kindern, egal ist.“ (S. 25) Kommentar dazu: Es gibt auch Menschen, die mit gedruckten Büchern und demagogischen Parolen Geld verdienen. Ob denen wirklich konstruktiv das Schicksal von Kindern heute bei uns am Herzen liegt? „Lassen Sie sich durch Medienmarktschreier nicht den Verstand rauben“ (S. 315), sondern wenden Sie ihren Verstand auch gegen dieses Medium an. Im Zweifel lassen Sie das Buch lieber im Buchhandelsregal stehen – es könnte Sie sonst „um den Verstand bringen“.

Prof. Dr. Bernward Hoffmann (für den GMK-Vorstand)

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Digital dement vs. medienkompetent?